Wir werden immer wieder – vor allem jetzt im Sommer, wenn viele mehr Zeit zum Lesen haben – nach Buchempfehlungen zum Thema Social Media gefragt. Manche möchten praktische Tipps zur Bedienung eines Netzwerks, andere brauchen Hilfestellung für die Strategieentwicklung ihrer Online-Kommunikation. Wenn wir dann recherchieren, wird uns recht schnell klar: es ist gar nicht so einfach mit den passenden Buchempfehlungen.
Warum? Weil vor allem Bücher à la „How to Twitter“ zum Zeitpunkt ihres Erscheinens schon wieder veraltet sind. Gerade bei Facebook kommen laufend neue Features dazu und können kaum rechtzeitig in Buchform vollständig dargestellt werden. Bei Büchern über Strategieentwicklung o.ä. wiederum kommt man ohne individuellen Zugang nicht weit: zu allgemein sind die Tipps, als dass man sie als Komplett-Neuling in der Materie wirklich anwenden könnte.
Was wir viel lieber lesen, sind Bücher, in denen die gesellschaftliche Bedeutung von Social Media thematisiert wird. Hier hat uns in den vergangenen Monaten „American Girls“ von Nancy Jo Sales sehr bewegt: Die Journalistin hat hunderte Interviews mit amerikanischen Mädchen zwischen 12 und 19 Jahren geführt und skizziert anhand dieser Gespräche das Social Media Nutzungsverhalten von Jugendlichen in den USA. Einige Aspekte daraus finden wir besonders erwähnenswert:
- Kaum zu glauben. Die Erlebnisse der Jugendlichen, über die berichtet wird, wirken teilweise so absurd, so unglaublich, dass es einem schwerfällt, sie zu glauben. Mehr als ein Kapitel schafft man da gar nicht am Stück zu lesen. Wir „Digital Natives“ können nicht fassen, welche Bedeutung ein Instagram-Bild, die Followerzahl etc. für Jugendliche haben können und wie sehr diese Plattformen Einfluss nehmen auf junge Menschen. Essstörungen und Selbstmordversuche inklusive.
- USA vs. Europa. Wir kennen die Studie zum Social Media Nutzungsverhalten von Jugendlichen in Österreich. Das sind wertvolle Zahlen und wichtige Ergebnisse für alle OnlinerInnen, Eltern, Lehrende etc. Was so eine Statistik natürlich nicht leisten kann, ist das Aufzeigen der Auswirkungen der Nutzung dieser Kanäle. Für Österreich im Speziellen oder auch für den europäischen Raum wäre ein ähnliches Projekt, wie es Sales für ihr Buch verfolgt hat, sehr spannend: Gespräche mit den Jugendlichen verschiedener Altersstufen, die Bedeutung der Online-Kommunikation für sie und auch das Aufzeigen der Problemfelder, die sich dadurch ergeben.
- Nacktfotos als Alltag. Cyber-Bullying ist ein Begriff, den wir alle kennen. Was das in der Realität bedeuten kann, ist und meist nicht klar: Das Jugendliche nicht mehr zur Schule gehen, weil sie Angst haben. Dass die Privatsphäre verletzende Bilder und Gerüchte verbreitet werden, die selbst von in ihrer Persönlichkeit gefestigten Persönlichkeiten nur schwer ignoriert und abgetan werden können. (Mal ehrlich: wem von uns wäre es egal, wenn beispielsweise Nacktfotos, die einE Ex von uns gemacht hat, in einer Whatsapp Gruppe rumgeschickt würden?). Kinder und Jugendliche können besonders grausam sein wenn es darum geht, der Gruppe nicht zugehörige Personen schlechtzumachen. Ungeachtet der Folgen, die dies haben kann.
- Mädchen als Opfer. Mädchen und junge Frauen sind dieser Art von Aggression besonders ausgesetzt. Zum Beispiel Snapchat: Die Möglichkeit, (scheinbar) sich selbst zerstörende Fotos zu verschicken, hat die Hemmschwellen sinken lassen. Nacktfotos zu verschicken, gehört für 13jährige (!) an manchen Schulen in den USA „einfach dazu“. Das funktioniert so, dass ein „cooler“ Typ auf ein Mädchen aufmerksam wird, Nummern mit ihr austauscht und ihr ohne vorangehendem Gespräch die Bitte übermittelt, sie möge ihm „nude pics“ schicken. Wer es nicht tut, gilt als prüde und wird ausgelacht. Wer es tut, gilt recht schnell als Schlampe. Die jungen Männer tauschen das Bildmaterial untereinander aus, verwenden es, um Mädchen zu sexuellen Handlungen zu nötigen. Wenn Jungs Sex haben, ist das in Ordnung. Wenn es junge Frauen tun, ist es ein Skandal.
- Auswirkungen auf Beziehungen. Nicht nur die Art und Weise, wie mit Sexualität umgegangen wird, hat sich durch die Digitalisierung verändert. Einige Jugendliche berichten im Gespräch mit Nancy Jo Sales, dass sie so etwas wie Dating nur noch aus Filmen kennen: gemeinsame Kinobesuche, gemeinsam etwas trinken gehen gibt es als offizielle erste Dates kaum noch mehr. Dating findet teilweise ausschließlich im Chatfenster statt.
Diese Punkte sind nichts völlig Neues. Mediale Beachtung fanden sie erst vor wenigen Wochen, als die Netflix-Serie „13 Reasons Why“ erschien, in der der Tod eines Teenager-Mädchens thematisiert wurde. Nancy Jo Sales hat über die Serie ebenfalls einen lesenswerten Artikel verfasst.
Was bedeutet das für uns Erwachsene? Wir müssen nicht alles verstehen, was Jugendliche tun und denken. Jede Generation hat ihre Kommunikationsplattform, ihre Art des Ausdrucks, ihre Interessen und Vorlieben. Auch Mobbing ist kein neues Phänomen. Es liegt auch in der Natur der Pubertät, sich von den Erwachsenen abgrenzen zu wollen, eigene Grenzen auszutesten und Neues auszuprobieren.
Wir dürfen aber auch nicht dazu übergehen, alle Social-Media- und Messenger-Plattformen zu verdammen und zu verbieten. Sich nicht mit den Kommunikationskanälen junger Menschen auseinanderzusetzen, kann gerade für LehrerInnen und Eltern ein Fehler sein. Natürlich ist musical.ly nicht die Plattform, die mir als Zielgruppe entspricht (zu meiner Zeit hieß das noch Mini Playback Show und ich wollte selbst immer bei der Fernsehsendung mitmachen, weil es ein Keyboard zu gewinnen gab, das mir meine Eltern nicht kaufen wollten.) Aber trotzdem schauen wir uns das an. Probieren es aus. Bilden uns eine eigene Meinung.
Wir plädieren für eine intensive Auseinandersetzung von uns Erwachsenen mit dem Mediennutzungsverhalten junger Menschen. Wie gerade junge Frauen digitale Kommunikationskanäle nutzen, beschreibt Nancy Jo Sales in „American Girls“ sehr eindringlich, ohne Sachverhalte zu beurteilen oder zu bewerten. Gerade das macht das Buch so interessant. Eine große Leseempfehlung für Lehrende, Eltern, Teenager, aber auch für alle, die sich beruflich mit Facebook & Co beschäftigen.
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